o.T., 2015 (Ausschnitt)

Akryl, Holzlasur, Pigmente auf Leinwand, 1,15 m x 1,45 m

Das Leben tritt von selbst hervor






Hauke Johanna Gerdes, Jahrgang 1972, studierte Malerei und Photographie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und an der Hochschule für Künste in Bremen Graphik. Das Studium in Braunschweig beendete sie mit ihrem Diplom und dem Abschluss des Meisterschülerstudiengangs.

Ich verfolge das konsequente, stille und ernsthafte Arbeiten von Hauke Johanna Gerdes durch mehrere Jahrzehnte und freue mich über Ihre Ergebnisse, die sie dabei aus ihrer künstlerischen Feldforschung immer wieder zu Tage trägt.

In Ihren malerischen Prozessen arbeitet sie auf Leinwand mit unterschiedlichen Farbmaterialien, die in zeitlich versetzten Phasen auf verschiedenen Schichten trocknen und miteinander reagieren, einem ständigen Wandel der Zustände unterworfen. Vorgänge, die Analogien zur Natur aufweisen.

Mit Abstand betrachtet wird der Charakter ihrer Kompositionen deutlich und spürbar. Nähert man sich betrachtend der Arbeit, so wird der organische Materialcharakter deutlich und eröffnet ganz eigene Kosmen und Universen, während die Struktur des Bildes, die man aus der Ferne sah, zunehmend in Auflösung begriffen ist.

Eine schwarz-weiße Malerei wirkt auf den ersten Blick wie eine Photographie, ähnlich der Struktur des analogen Photokorns legt sich eine feine weiße Struktur über einen schwarz angelegten Grund. Die in mehreren Schichten auf die Leinwand gegossenen, teilweise pastosen Farbmaterialien, verbinden sich, brechen im Trocknungsprozess auf und wachsen zu einem von Spuren gezeichneten landschaftlichen Farbgrund, der übergossen wird mit Pigmenten von schwarzem Ruß und diese wiederum mit einer Schicht weißer Farbe. Dabei entsteht immer wieder ein Wechselspiel zwischen Zufall und bewusster Lenkung, Reaktion des Materials und eigener Intuition, Denken und Gefühl, Innen und Aussen, Mikro- und Makrokosmos, Realität und Abstraktion, Traum und Wirklichkeit, Tod und Leben.

Die Bilder dichter atmosphärischer Zustände innerer Landschaften, in oftmals monochromen Farbgebungen, bezeugen diese lebhaften Vorgänge durch ihre Spannung und Intensität und bilden für den Betrachter eine Brücke, durch die er durch das Erleben von Hauke Johanna Gerdes Kunst und der von ihr gewählten Formsprache, in seine eigenen inneren Welten einzutauchen vermag. Ihre Bilder sind eine Art zeitlose Übersetzung der Naturformen in eine eigene Sprache der Malerei, die sich bedingt durch das Material, aus dem sie schafft.

Um zu versuchen sich dem äußeren Malprozess und dem inneren Schöpfungsprozess von Hauke Johanna Gerdes anzunäheren, ein Zitat von Schelling1:


„Denn nichts der allgemeinen Substanz Fremdes ist die Erscheinung des Lebens; das Leben tritt von selbst hervor, wo die Schranke der Endlichkeit fällt, und aus der dem Kern der Materie selbst sprosst die Blüte des organischen Lebens hervor.

Alles ist Urkeim oder nichts. Jeder Teil der Materie lebt nicht nur, sondern ist auch ein Universum von verschiedenen Arten des Lebens, wenngleich die starre Selbstheit dies unendliche Leben zurückdrängt.

Auch die sogenannte tote Materie ist nur eine schlafende, gleichsam vor Endlichkeit trunkene Tier- und Pflanzenwelt, die ihre Auferstehung noch erwartet oder den Moment derselben versäumt hat.“


Die angesprochenen Naturvorgänge spielen auch eine wichtige Rolle für ihre Photographie. Beim analogen Photo erfolgt die Aufzeichnung in Kristallagglomeraten, sogenannte Körnung, welche die Transparenz der Emulsion modifiziert. Hier ist es die eigenhändige Entwicklung ihrer analogen schwarz-weiß Silbergelatine-Abzüge, wieder ein Vorgang mit seinen eigenen Naturgesetzen, die auf Motive wie Ruinen von untergehenden Industriegebäuden oder Tempel vergangener Kulturen treffen. Diese scheinen zu einer Art Erinnerungsträger zu werden, in deren Spiegel sich eigene graphische Räume abzeichnen, die sich immer wieder teilweise ins Abstrakte auflösen und an die Grenze der Abbildbarkeit des Korns gelangen, da sie gerne lichtempfindlichen Film mit grobem Korn verwendet, welches über die Vergrößerung das Motiv bei näherem Herangehen auflöst. Oftmals sind es auch Motive aus der Naturwelt, die dem Prozess der Entwicklung ausgesetzt werden. Nicht selten werden, ähnlich wie auch in ihren Ölgemälden, verschiedene Photoschichten übereinander belichtet, die wieder ganz neue Kompositionen und Bilder hervorbringen.

Die Unterschiede zwischen den beiden Ausdrucksfomen verschmelzen in ihrer künstlerischen Entwicklung. Zunehmend haben ihre Ölbilder etwas photographisches und ihre Photographien etwas malerisches. Dabei ergänzen sich die Medien in ihrem Ausdruck und gehen ineinander. Neben der schwarz-weißen Photographie eines Tempels wirkt ein sandfarbenes, monochromes Materialbild, wie eine antike Tempelplatte, als würde der graphischen Abbildung der Säulen auf der Photographie die warmen Farben des Tempels in ihrer Haptik hinzugefügt, als könne man ihn riechen und berühren. Andere photographische Arbeiten können in einer Ausstellung über eine atmosphärische Empfindung verstärkt werden oder bilden einen poetischen Zusammenhang mit der Malerei.

Zwei Pigmentarbeiten erinnern auf den ersten Blick eher an großformatige Holzschnitte oder Lithographien, wieder erreicht Hauke Johanna Gerdes in einem fremden Medium die typischen Ausdrucksformen eines anderen Mediums, um sie um das Wirkungsfeld des verwendeten Mediums zu erweitern. Auf dem von ihr als „Kratzbilder“ bezeichneten frühen Bilderzyklus wirkt sie taktil auf die Photoschicht mit malerisch-graphischen Mitteln ein.

In seinem Standardwerk "Film als Kunst" hat Rudolf Arnheim2 darauf hingewiesen, dass es vorwiegend Maler waren, die in den 20er Jahren dem Film neue, künstlerische Impulse gaben. In dieser Tradition der Bildenden Kunst versteht sich auch Hauke Johanna Gerdes, die nicht nur in ihren Photoarbeiten, sondern auch in ihren Filmen ausschließlich auf Analogmaterial zurückgreift. In ihrem Film „Evaporation“ löst sich die Filmschicht des Zelluloid-Films durch chemische Einwirkungen vom Trägermaterial ab und schafft so Zwischenbilder der unsichtbaren und sichtbaren Welt. Der Titel „Evaporation“ bezeichnet den Übergang von einem flüssigen in einen gasförmigen Aggregatzustand. In der frühen 16-mm Filmarbeit „Fragment“ entsteht über doppelbelichteten Filmmaterial eine Metamorphose zwischen Tier und Landschaft. In ihrem Film „Positiv auf Positiv Kosmos“ nutzt sie das Filmmedium, um bewegte Malerei und das Spiel zwischen Abstraktion und Abbildung sichtbar machen zu können. Alle drei filmische Arbeiten kennzeichnet der Ansatz, über einen rhythmisch, musikalischen Bildschnitt die Filmbilder in eine poetische Sprache zu transformieren.

Die Prozesse, die Hauke Johanna Gerdes in ihren Arbeiten anregt, haben alchemistischen Charakter. Gleichzeitig sind es stochastische Ereignisse und Ergebnisse, die aus einer inneren Bewusstseinsschicht zwar behutsam gelenkt, aber niemals erzwungen werden könnten. Die Kunst ist dabei für sie der Zugang zu ihrer inneren Welt, man könnte es auch als eine lange Reise oder als ein stetes Spiel der Empfindung bezeichnen, welches der Görlitzer Seher Jacob Böhme3 in folgende Worte fasste:


„ ...durch welches die verborgene Weisheit in ihrer Kraft erkannt und verstanden wird, der verborgene Gott mit den sichtbaren Dingen offenbar wird, zum Spiel der Göttlichen Kraft, daß das Unsichtbare mit dem Sichtbaren spiele, und sich darinnen in Empfindlichkeit und Findlichkeit seiner selber einführe.

Gleichwie sich das Gemüte mit dem Leib und durch den Leib in Sinne und Gedanken einführet, dadurch es wirket und sich empfindlich macht; also auch die unsichtbare Welt durch die sichtbare und mit der sichtbaren: und ist uns nicht ein solches zu denken, als könnte man die verborgene Göttliche Welt nicht ergründen, was sie sei, und was ihre Wirkung und Wesen sei; dann an dem sichtbaren Wesen der Creation sehen wir eine Figur der innern geistlichen Wirkung der Kraft-Welt.“


Dem Mystiker ergeht es sehr ähnlich wie dem Künstler, denn das innere Empfangen einer schöpferischen Idee, einer wirklich künstlerischen Vorstellung - ist an sich schon eine Art "übersinnlicher Erfahrung“. Der frei assoziierte Bildtitel der photographischen Arbeiten „Die Schafe des Polyphem“ dient einer Projektionsfläche. Das mythologische Bild des Titels weist dem Betrachter einen möglichen Weg zu einem inneren Bild seines kollektiven Bewusstseins. Damit steht sie in der photogeschichtlichen Tradition von Alfred Stieglitz4, bei dem die photografischen Arbeiten erstmals einen emotionalen Wert erhielten, der über die abgebildete Photographie hinausging und zu Äquivalenten seiner Empfindungen und Gedanken wurden. Der Filmemacher Andrej Tarkowskij schreibt in seinem Buch “Die versiegelte Zeit“5: „Die Kunst ist eine Metasprache, mit deren Hilfe die Menschen zueinander vorzustoßen versuchen, in der sie Mitteilungen über sich selbst machen und sich fremde Erfahrungen aneignen.“

Der Ausstellungsraum selbst spielt für ihre Überlegungen und ihre Intuition eine eminent wichtige Rolle. Erst nachdem sie diesen auf sich hat einwirken lassen, bestimmt sie, welche ihrer Arbeiten sie auswählt, wie sie ihre Malerei und Photographie im Raum arrangiert und was sie durch weitere Eingriffe auf die Räumlichkeiten bewirken kann, um damit eine möglichst dichte Raumwirkung mit einem hohen Schwingungs- und Wirkungsfeld zu schaffen. Ebenso schöpft sie für diese Räume eigen komponierte Klangkompositionen und ergänzt die verschiedenen Medien durch ihre filmischen Arbeiten zu einem künstlerischen Gesamtwerk.

Die Bewusstseinsschicht, die Hauke Johanna Gerdes in uns ansprechen will, liegt im geistigen Raum, ihre Bilder verlangen, dass wir bereit sind, uns mit unseren Empfindungen zu öffnen. Ihre künstlerischen Arbeiten fordern ein vorübergehendes „Leersein“, einen Zustand der Stille und damit einer Öffnung, wie etwa bei einer Meditation. Denn es geht um eine Wahrnehmung, die in die Transformation eines Bereiches des Erfassbaren reicht, der recht flüchtig ist und sich den Augen gerne entzieht. So kann es für den Betrachter manchmal etwas Zeit brauchen, bis die Arbeiten sich der Empfindung aufschließen und sich in der Betrachtung verwandeln. Dann aber tritt plötzlich, wie aus heiterem Himmel, seelisch tief Erlebtes zutage. Die Gesamtheit eines Moments kann wahrnehmbar werden. Das Unbekannte kann den Blick, sowie das Bewusstsein weiten und zu einem großen Glück werden.

Klaus Weingarten









1 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Sämtliche Werke, S. 388, 1804

2 Rudolf Arnheim – Film als Kunst, erstmalig erschienen 1932, Taschenbücher Wissenschaft Nr. 1553, 4. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2009

3 Mysterium Magnum, Vorrede, 1-8 Gesamtausgabe „Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens“, Amsterdam, 1730

4 Beaumont Newhall - Geschichte der Photographie, S. 178, Schirmer/Mosel, München, 1989/1998

5 Andrej Tarkowskij - Die versiegelte Zeit / Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, II. Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen, S.45, Ullstein, Berlin, 1988

o.T., 2005

Öl, Holzlasur, Schellack auf Leinwand, 1,15 m x 1,30 m

Rabe im Flug, 2003

schwarz-weiß Fotografie, Silbergelatine Barytabzug, Aludibond, 0,87 m x 1,82 m

o.T., 2003

Öl, Shellack, Lack auf Leinwand, 1,20 x 1,50 m

Tempelrelief, 2009

schwarz-weiß Fotografie, Silbergelatine Barytabzug,

Aludibond, 50 cm x 60 cm

Lichtraum I, 2014

schwarz-weiß Fotografie, Silbergelatine Barytabzug,

Aludibond, 88,5 cm x 90 cm

Poseidon Tempel, 2012

schwarz-weiß Fotografie, Silbergelatine Barytabzug,

Aludibond, 0,77 m x 1,13 m

o.T., 2012

Zement; Pigmente auf Leinwand, 0,90 m x 1,30 m

o.T., 2016

Akryl, Pigmente auf Leinwand, 1,20 m x 1,50 m

Kratzbilder, 1997 - 2005

12 s/w Fotobearbeitungen, 9 cm x 13 cm

Kratzbilder, 1997 - 2005

12 s/w Fotobearbeitungen, 9 cm x 13 cm

Fragment,

Nina Maria Küchler / Hauke Johanna Gerdes

16 mm, s/w, 4 min, 2002

Positiv auf Positiv Kosmos,

Peter Conrad Beyer, Hauke Johanna Gerdes, Klaus Weingarten

Ton: Weltraumstaunen 16 mm, Farbe, Ton, 7 min, 2003

Evaporation,

Bild- und Klangmontage: Hauke Johanna Gerdes, Klaus Weingarten

Klangkulisse: Rafael Vogel,

Bildmanipulation: Sector 16, Farbe, Ton, 16 mm, digital, 7 min, 2017

Die Schafe des Polyphem, 2007

schwarz-weiß Fotografie, Silbergelatine PE- Abzug, Aludibond, 1,07 m x 1,65 m

o.T., 2018

Akryl, Holzlasur, Pigmente auf Leinwand, 1,15 m x 1,45 m